Eröffnungsansprache in der Herzog August Bibliothek, Wolfenbüttel
Rosenkreuz als europäisches Phänomen im 17. Jahrhundert.
Verehrte Anwesende,
Wir stehen einer prachtvollen Ausstellung gegenüber, die aus 350 Rosenkreuzerschriften in Gestalt von Briefen, Manuskripten, Drucken und Prozeßakten besteht. Sie ist die Frucht der intensiven Arbeit unseres Bibliothekars Dr. Carlos Gilly, der für die Zusammenstellung der Ausstellung 'Rosenkreuz als europäisches Phänomen im 17. Jahrhundert' verantwortlich zeichnet und zudem der Verfasser des dazugehörigen Katalogs 'Cimelia Rhodostaurotica. Die Rosenkreuzer im Spiegel der zwischen 1610 und 1660 entstandenen Handschriften und Drucke' ist.
Diese Ausstellung wurde möglich, da die Herzog August Bibliothek über eine außergewöhnliche und umfangreiche Sammlung von Rosenkreuzerschriften verfügt, die mit Hilfe der reichhaltigen Bestände unserer eigenen Bibliothek und mit Leihgaben von Bibliotheken aus ganz Europa vervollständigt wurde.
Mit dieser Ausstellung wird erstmals in der Geschichte Europas ein Überblick über die gesamte Reichweite des Phänomens 'Rosenkreuz' geboten. Die Entstehung der Rosenkreuzermanifeste fällt in eine ganz einmalige Periode der europäischen Geschichte - eine Periode, die auf die Renaissance im Italien des 15. Jahrhunderts folgte und besonders stark im Zeichen Luthers und der deutschen Reformation stand. Kurzum, eine Periode großer gesellschaftlicher und religiöser Umwandlungen, die auf dem Bedürfnis gründeten, das menschliche Dasein als solches zu erneuern.
Wir könnten bezüglich der europäischen Geistesgeschichte die These aufstellen, daß vor allem das neue gesellschaftliche und kulturelle Klima dieser Periode zum großen Impuls für die Herausbildung des modernen europäischen Denkens geworden ist.
Die Entstehungsgeschichte der Manifeste ist - das geht klar aus den Untersuchungen unseres Mitarbeiters Carlos Gilly hervor - in den spirituellen Impulsen des 16. Jahrhunderts anzusiedeln, wie sie von Paracelsus und Johannes Reuchlin, dem Abt Trithemius, Agrippa von Nettesheim, Sebastian Franck, Caspar Schwenkfeld, Valentin Weigel, Paul Lautensack und vielen hervorragenden Theologen und spirituellen Denkern ausgingen. Und auch hier gilt, was zu allen Zeiten für die europäische Geistesgeschichte gegolten hat, daß die Geschichte immer auch eine persönliche Geschichte, eine Geschichte der Menschen ist, in der Objektivität und Subjektivität nahtlos ineinander überzugehen scheinen.
Jetzt, 400 Jahre später, fällt es uns noch immer nicht leicht, zu einem Urteil über die wirklichen Grundlagen der Rosenkreuzerbewegung zu gelangen und zu ergründen, von welchen spirituellen Unterströmungen das Denken jener Zeit inspiriert wurde. Das vorläufige Ergebnis unserer Untersuchungen besteht in dem Wissen, daß wir die Antwort auf die Frage nach der Entstehung der frühen Rosenkreuzer-Manifeste im ganz persönlichen Bereich suchen müssen und dort tatsächlich fündig werden können.
In diesem Zusammenhang müssen wir denn auch das familiäre Geschehen bei den Andreaes in unsere Betrachtungen einbeziehen. Ohne Zweifel dürfte das Leben des 1601 verstorbenen Vaters, der großes Interesse an der Alchemie hatte und dessen Bibliothek viele theosophische Schriften enthielt, von großer Bedeutung für die Ansichten des jungen Johann Valentin gewesen sein.
Wir wissen, daß die Kindheit von Johann Valentin Andreae von der großen Freundschaft zwischen seinem Vater, dem Bruder Johann Ludwig Andreae und Tobias Hess geprägt wurde. Untersuchungen haben den Nachweis erbracht, daß Tobias Hess und Johann Valentin Andreaes Vater zusammen alchemistische Versuche durchführten.
Spätere Lebenserfahrungen Johann Valentin Andreaes verraten auch den Einfluß seines Großvaters Jacob Andreae, der an der Seite Luthers einen Beitrag zur Reformation geleistet hat. Um die charakterliche Anlage von Johann Valentin Andreae wirklich verstehen zu können, müssen wir frühe Einflüsse, ja die Geistesrichtung, das spirituelle Klima, in dem er als junger Mensch lebte, ausdrücklich berücksichtigen. Seine Studentenzeit und sein bereits früh ausgeprägtes Interesse für Literatur spielen ebenfalls eine große Rolle.
Dabei sollte unbedingt das für die Entstehungsgeschichte der Rosenkreuzermanifeste so ausschlaggebende Jahr 1600 zum Ausgangspunkt genommen werden. Johann Valentin Andreae war damals 14 Jahre alt. Die darauffolgende Periode, also der Zeitraum zwischen seinem 14. und 21. Lebensjahr, muß in diesem Sinne noch eingehender beleuchtet werden.
Johann Valentin Andreaes Vater lebte damals noch und war sehr eng mit Tobias Hess befreundet. Wie wir wissen, wurde Hess zu jener Zeit größtenteils von seinem spirituellen Interesse beherrscht, das er als neues Zeitbild, als neues Weltbild bezeichnete, als Periode des Heiligen Geistes oder dritte Zeitperiode, wie er sagte. Ich bin darauf in meinem Vortrag auf dem Kongreß im November des vergangenen Jahres bereits ausführlich eingegangen.
Von 1607 an, als Johann Valentin Andreae 21 Jahre alt war, begann sich eine deutliche Weiterentwicklung abzuzeichnen. Was uns hier entgegentritt, sollte sich immer weiter vertiefen und sich in der Periode von 1607-1614 mit dem Zustandekommen der Manifeste der Rosenkreuzerbruderschaft nochmals intensivieren.
1608 wurde erstmals etwas von der außergewöhnlichen Freundschaft, dem Bruderband zwischen Johann Valentin Andreae, Tobias Hess, Johannes Vischer und Abraham Hölzl sichtbar. Das ist die Periode, in der Andreae mit der Chymischen Hochzeit des Christian Rosencreutz begann und in der sich die ersten Konturen der Fama Fraternitatis abzeichneten.
Wissenschaftliche und historische Untersuchungen haben inzwischen zur Genüge nachgewiesen, daß diese siebenjährige Periode, die 1614 endete -im Jahr des Erscheinens der ersten Auflage der Fama Fraternitatis und des Todes von Tobias Hess-, als Geburtsstunde der Fama Fraternitatis, der Confessio Fraternitatis und der Chymischen Hochzeit des Christian Rosencreutz betrachtet werden muß. Die persönliche Verbundenheit, die innige Freundschaft zwischen Tobias Hess und Johann Valentin Andreae waren dabei die bestimmenden Faktoren.
Im Zeitraum vor 1614, als Handschriften der Fama Fraternitatis schon einige Jahre im Umlauf waren, verursachten die ersten Verkünder der Fama Fraternitatis bereits ungeheuren Aufruhr. Mit der Drucklegung der Fama Fraternitatis und der übrigen Manifeste der Rosenkreuzerbruderschaft, den ersten zustimmenden Antworten und weiteren Schriften, die auf die Publikation der Manifeste folgten, zogen die Rosenkreuzer die Aufmerksamkeit Europas auf sich.
Die große Auseinandersetzung, die um das Wirken der ersten Rosenkreuzerbrüder entbrannte, zeitigte überwiegend kritische Reaktionen von seiten der Akademiker und Theologen, darunter auch kalvinistische und katholische, und hatte -was sehr wichtig ist- zugleich politische Folgen, darunter die ersten Strafverfahren gegen die Rosenkreuzer.
In diesen Kontext haben wir den State of Mind, die Geistesverfassung des Johann Valentin Andreae einzuordnen der ganz unerwartet eine Welle von Reaktionen verarbeiten mußte, die ihn erneut mit einer Periode seine Lebens konfrontierten, die er zu diesem Zeitpunkt bereits abgeschlossen hatte.
Dadurch wurden die starken Impulse seiner Kindheit wiederbelebt, seine Beziehung zum Vater, zu dem inzwischen verstorbenen Bruder Johann Ludwig, seine große Freundschaft mit Tobias Hess, der intime und vertrauliche Umgang mit seinen Jugendfreunden, und zwar gerade in der Phase, in der er die ersten Schritte seiner theologischen Laufbahn machte und - vor allem durch seine Heirat - gesellschaftliche Verantwortung übernahm.
Das weitere Studium seines literarischen Schaffens ergibt deutlich, daß er sich um das Jahr 1614, dem Sterbejahr von Tobias Hess, auf einen neuen Lebenskurs besann. Viele dieser Aspekte treten auch in seiner besonderen Freundschaft mit dem Gründer dieser Bibliothek, Herzog August, zutage, die ihren Niederschlag in einem Briefwechsel fand, der bis zu seinem Lebensende dauern sollte.
Darum bilden die reichhaltigen Briefbestände, aber auch die Handschriften und Drucke aus der Herzog August Bibliothek eine entscheidende Indikation und eine inhaltliche Beweisführung, wobei wir uns vergegenwärtigen müssen, daß wir mit unseren Einblicken in die weitere Entwicklung der geistigen Haltung von Johann Valentin Andreae erst am Anfang unserer Forschung stehen.
Die 700 Bände zählende Bibliothek, die Johann Valentin Andreae 1644 an Herzog August verkaufte, der Briefwechsel, seine Lebensbeschreibung, die mathematischen Instrumente und mechanischen Gerate, die Andreae entwarf, und viele andere greifbare Beweise werden in Zukunft noch viel Überraschendes offenbaren.
In diesem Zusammenhang möchte ich erneut auf die außergewöhnliche Freundschaft hinweisen, die Johann Valentin Andreae mit Christoph Besold verband, sowie auf den bemerkenswerten Umstand, daß sich die frühestdatierten Stücke wie die älteste Handschrift der Fama Fraternitatis und andere Dokumente aus der Zeit um 1614, die hier ausgestellt werden, in der Privatbibliothek von Christoph Besold befanden.
Die Ausstellung, die hier für Sie zusammengetragen wurde und die uns mit großer Freude erfüllt, ist das Ergebnis zehnjähriger historischer Forschungsarbeit und unseres Erachtens auch ein Beweis dafür, daß das, was wir hier in die Worte 'Rosenkreuz als europäisches Phänomen des 17. Jahrhunderts' fassen, auch wirklich ernst genommen werden muß.
Bei der Zusammenstellung dieser Ausstellung hat unser Bibliothekar Carlos Gilly alle entsprechend bedeutsamen Faktoren nacheinander behandelt und mit einer deutlichen Erklärung versehen. Nicht zuletzt durch die ausführlichen Erläuterungen im Katalog vermittelt die Ausstellung auch deutliche Einsichten in das Wirken der Vorläufer und Wegbereiter der Rosenkreuzerbruderschaft.
In Erwägung all dieser Aspekte hat unsere schon im Jahre 1993 begonnene Vorbereitungsarbeit, die dann ab Januar 1994 mit der Ausstellung 'Paracelsus in der Bibliotheca Philosophica Hermetica' und dem gleichnamigen Katalog deutlichere Formen annahm, außerordentlich wichtige Ergebnisse hervorgebracht. Die darauffolgende Monographie Adam HasImayr Der erste Verkünder der Manifeste der Rosenkreuzer, die im November des vergangenen Jahres das Licht der Öffentlichkeit erblickte, konnten wir auf dem Kongreß, der hier in Wolfenbüttel stattfand, erstmals präsentieren.
Und so betrachten wir die Ausstellung 'Rosenkreuz als europäisches Phänomen im 17. Jahrhundert' als sehr erfreuliches Präludium zu der in Bälde erscheinenden Bibliographie der frühen Rosenkreuzer, die die Periode von 1610 bis 1660 behandeln wird und in der insgesamt 700 Schriften erläutert werden sollen, aus denen die hier gezeigten 350 Schriften sorgfältig ausgewählt wurden. Die Bibliotheca Philosophica Hermetica unternimmt hiermit einen wichtigen weiteren Vorstoß zu einer Erschließung der Geistesgeschichte Europas.
In diesem Zusammenhang möchte ich gern ein Treffen mit Herrn Professor Paul Raabe, dem damaligen Direktor der Herzog August Bibliothek, memorieren, das in meiner Bibliothek in Amsterdam stattfand. Bei diese Gelegenheit spornte er mich dazu an, die Erforschung der Entstehungsgeschichte der frühen Rosenkreuzer auch wirklich von unserer Bibliothek aus in Angriff zu nehmen, da er sie für eine der wichtigsten Nachkriegsinitiativen auf dem Gebiet der Erforschung der europäischen Geistesgeschichte ansah.
In den kommenden Jahren wird im Rahmen der Bibliographie der Rosenkreuzer, die, wie schon gesagt, zunächst die Periode 1610-1660 umfaßt, auch der Zeitraum von 1660 bis 1710 zur Debatte stehen, wobei dann erstmals die Erschließung der Entstehungsgeschichte der Bewegung der Gold- und Rosenkreuzer erfolgen wird, die von Samuel Richter, Sincerus Renatus, erstmals erwähnt wurde.
Den krönenden Abschluß des Forschungsprojekts wird danach die Beschreibung der Blütezeit der Rosenkreuzerschriften bilden, die zwischen 1710 und 1800 in ganz Europa erschienen.
Kurz gesagt werden wir dann - was insbesondere das Verdienst von Carlos Gilly ist - eine Gesamtübersicht über die frühe Rosenkreuzerbewegung und ihrer Nachfolger vorlegen, in Form einer wissenschaftlichen und bibliographischen Abhandlung über ungefähr 1700 Rosenkreuzertexte und die direkt mit ihnen korrespondierenden Reaktionen und Schriften. Wir vertrauen darauf, Ihnen heute erstmals ein sichtbares Zeugnis der Erschließung eines Mysteriums überbringen zu können, das über 400 Jahre lang die Entstehungsgeschichte und die wirkliche Bedeutung des Phänomens 'Rosenkreuz' umgab.
Darum möchte ich am Ende meiner Ausführungen unserem Bibliothekar, meinem Freund Carlos Gilly, meine große Achtung und Dankbarkeit sowie meine persönliche Bewunderung ausdrücken für die erfolgreiche Arbeit, die er im Auftrag der von mir gegründeten Bibliotheca Philosophica Hermetica bis zum heutigen Tag geleistet hat. Abschließend mochte ich dem Mitarbeiterstab der Herzog August Bibliothek unter der Leitung von Herrn Dr. M. Lichtwitz sowie Herrn Dag Ernst Petersen meinen aufrichtigen Dank für die schöne Einrichtung und Gestaltung dieser bedeutsamen Ausstellung sagen.
Joost R. Ritman
Gründer der Bibliotheca Philosophica Hermetica